Dungeon World: Eine Kurzvorstellung

Dungeon World ist für mich persönlich eines der besten Rollenspiele, das ich kenne. Erstaunlicherweise gibt es online (zumindest im deutschsprachigen Bereich) kaum eine vernünftige Kurzvorstellung oder Rezension (1, 2, 3, 4), ganz zu schweigen von einer substantiellen Betrachtung, was Dungeon World denn so von anderen Systemen abhebt – und tatsächlich gibt es ganz gewaltige Unterschiede zwischen dem, was Dungeon World macht, und dem, was klassische Systeme machen. Es nennt sich zwar beides Rollenspiel, aber die Philosophie und die Mechaniken sind doch deutlich andere. Ich will mich deshalb hier an einer solchen Kurzvorstellung versuchen (eine intensivere Analyse gibt es hier).

Dungeon World ist ein pbtA-Rollenspiel

Dungeon World ist ein Fantasy-Rollenspiel. Es bedient sich eines Regelwerks, das von einer ganzen Reihe von Rollenspielen genutzt wird, wenngleich mit individuellen Ausprägungen. Nach dem ersten dieser Rollenspiele, Apocalypse World, nennt sich dieses Regelwerk (oder besser: diese Regelengine) powered by the Apocalypse (pbtA). Wie alle Rollenspiele mit der pbtA-Regelengine ist auch Dungeon World ein schlankes und regelleichtes System. Im Mittelpunkt stehen sogenannte Spielzüge. Diese Spielzüge werden von bestimmten Handlungen der Charaktere ausgelöst und durch einen 2W6-Wurf mit Attributs­modifikator abgehandelt. Alles, was im Rollenspiel üblicherweise durch Würfelwürfe geregelt wird, verfügt hier über einen Spielzug: kämpfen, zaubern, wahrnehmen, verhandeln, wachen, reisen und vieles mehr, sogar sterben (wenngleich etwas prosaischer formuliert: „Gefahr trotzen“, „Wissen kundtun“, „Letzter Atemzug“ etc.). Manche Spielzüge stehen allen Charakteren zur Verfügung, andere wiederum nur bestimmten Klassen, wodurch die Figuren ihre charakteristische Prägung bekommen.

Die Spielzüge sind eine so dominante Kernmechanik, dass andere bekannte Regelmechaniken keinen Platz in Dungeon World finden. Es gibt keine Eigenschaftsproben, keine Fertigkeitsproben, keine Rettungswürfe u.ä. Es gibt über einige wenige Attribute und Kampfwerte hinaus auch nur wenige Zahlenwerte und schon gar keine langen Wertelisten, weder bei den Charakteren noch bei ihren Gegnern. Entsprechend gibt es auch keine komplexen Werteberechnungen und Würfelmechaniken. Insbesondere eine tabletopartige Konfliktsimulation, in die viele klassische Rollenspiele beim Kampf verfallen, kennt Dungeon World nicht.

Ein Wurf versucht niemals die Handlung eines Charakters realitätsgetreu zu simulieren, sondern ein Wurf bestimmt, welche Folgen diese Handlung für die Erzählung hat. Das klingt unspektakulär, bedeutet aber im Endergebnis, dass die Regelmechanik nicht die Aktivität der Charaktere, sondern den Ablauf der Abenteuergeschichte steuert. Die Abenteuergeschichte entsteht nicht – oder zumindest nicht hauptsächlich – aus der Lenkung durch die Spielleitung, sondern durch das (in Spielzüge gegossene) Handeln der Charaktere und dessen (von den Spielzügen gesteuerten) Konsequenzen für die nächste Szene. Angesichts dieser ergebnisoffenen und spielergesteuerten Spielmechanik verträgt sich Dungeon World auch schlecht mit starren Vorgaben von Plot und Welt. Dungeon World kennt weder vorgegebene Abenteuer noch eine feste Hintergrundwelt – beides entsteht als Teil der Spielmechanik am Spieltisch.

Das Erleben einer Abenteuergeschichte steht im Mittelpunkt

Damit ist Dungeon World unverkennbar, wie alle pbtA-Rollenspiele, ein narratives Rollenspiel, wenn man den Definitionen der GNS-Theorie folgen möchte (Narrativism). Spiele, um herauszufinden, was passiert, so lautet eine Selbstbeschreibung von Dungeon World. Und was passiert, was also das Spiel ausmacht, das ist nicht die Werteermittlung und -verrechnung oder das kompetitive Gegeneinanderwürfeln von SL und SC, was passiert, das ist vielmehr das Erleben einer Abenteuergeschichte: Fantasie, Kreativität, Spannung, Dramatik, Witz, Sense of Wonder. Eben deshalb ist es kontraproduktiv, Handlungen von Charakteren detail- und realitätsgetreu simulieren zu wollen. Dass ein Kämpfer kämpfen, eine Magierin zaubern und ein Dieb schleichen kann, davon geht Dungeon World aus. Handlungen sollen vielmehr Wegmarken der Erzählung sein, sie sollen zu interessanten Szenen führen, sie sollen Charaktere ins Spotlight rücken: entweder eine heldenhafte Tat, von der man sich noch lange erzählen wird, oder ein Scheitern, das nun vermehrte Anstrengungen bedarf, um doch noch ins Gute verkehrt werden zu können.

Dungeon World interessiert nicht, welche Bewegungsmodifikatoren, welche Größenmodifikatoren und welche Waffenmodifikatoren auf einen Kampf angerechnet werden, sondern was passiert, wenn der Kämpfer auf die wolfreitenden Orkmarodeure vom Blutwald trifft. Dungeon World interessiert nicht, welche Zaubersprüche, welche Magietraditionen und welche Sprachfertigkeiten der Charakter erlernt hat, sondern was passiert, wenn die Magierin den uralten Bannspruch auf dem Sarkophag der gefürchteten Zauberpriester rezitiert. Dungeon World interessiert nicht, welche Fertigkeiten, welche Ortskenntnisse oder welche Sozialpunkte der Charakter vorzuweisen hat, sondern was passiert, wenn der Kleriker vor die versammelte Menge auf den Tempelstufen tritt und sie dazu auffordert, der ketzerischen Herrschaft des Knochengenerals ein Ende zu bereiten. Dungeon World interessiert nicht, welche Ausrüstung mit welchen Boni die Gruppe in der Wildnis mit sich führt, sondern was passiert, wenn die Waldläuferin die Gruppe durch die Schwefelsümpfe am Fuße der Drachenberge führt.

Dungeon World hemmt die Abenteuergeschichte nicht mit taktischem Kleinkram und Mikromanagement, sondern es konzentriert sich auf das Wesentliche: das Erleben von fantastischen und spannenden Dingen. Immer dann, wenn Handlungen folgenreich und Herausforderungen groß werden, also wenn die Erzählung an eine Wegmarke kommt, dann bringt Dungeon World seine Regelmechanik ins Spiel. Gemeint sind natürlich die erwähnten Spielzüge, deren Würfelwurf nun über den Ausgang der Handlung bestimmt: Erfolg, Teilerfolg oder Misserfolg. Jedes dieser drei Ergebnisse generiert einen Fortschritt der Abenteuergeschichte, entweder in die Richtung, die die Spieler anstreben – vielleicht ohne Hindernisse, vielleicht aber auch mit – oder in eine Richtung, die nicht intendiert und potentiell problembeladen ist (Failing Forward). Oder anders gesprochen: Dungeon World ist wie ein Buch oder ein Film, in dem es nicht interessiert, ob die Waffenreichweite kurz, der Gegner groß, die Sichtverhältnisse schlecht und die Hexfelder begrenzt sind, sondern allein, was denn passiert, wenn der friedvolle Hobbitgärtner auf die urböse Riesenspinne trifft und dabei das Schicksal aller freien Völker auf dem Spiel steht (nur so als Beispiel…). Und hierfür braucht man kein brettspielartiges Regelkorsett, sondern eine Regelmechanik, die das Erleben einer solchen Abenteuergeschichte befördert und unterstützt. Dungeon World macht genau das.

Der Spielleiter ist Mitspieler und keine Übergestalt

Im Rollenspiel besteht üblicherweise eine klare Scheidung zwischen einer Person, die die Spielleitung übernimmt, und den anderen Personen, die die Spielercharaktere darstellen. Diese Dichotomie führt zu erheblichen Unterschieden in puncto Arbeitsverteilung, Spielanteilen und Gestaltungsmacht. In geradezu grotesker Einseitigkeit wird der Spielleitung die Gesamtverantwortung für die Vorbereitung und den Ablauf eines Spielabends zugewiesen. Die Spielleitung bereitet ein Abenteuer vor, sie ist verantwortlich für den Ablauf der Handlung, den Aufbau und den Durchlauf eines Spannungsbogens, die Improvisation unvorhergesehener Szenen, die Integration aller Charaktere und aller Charakterhandlungen in das Abenteuer, die Motivation aller Spielerinnen und Spieler etc., dazu wird von ihr eine umfangreiche Kenntnis von Regelwerk und Hintergrundwelt erwartet. Die Spielerinnen und Spieler sind im Wesentlichen nur verantwortlich für eine angemessene Darstellung ihrer Charaktere; im schlechteren Fall verbleiben sie gar in einer passiven und reagierenden Rolle. Diese Aufgabenlast bekommt die Spielleitung dadurch kompensiert, dass ihr weitgehende Macht über die Geschehnisse am Spieltisch überantwortet wird: sie lenkt die Handlung, sie gestaltet die Welt, sie setzt Spielrealitäten, sie trifft Entscheidungen, sie hat das letzte Wort in Konfliktfällen etc. In klassischen Systemen wird die Spielleiterin oder der Spielleiter somit zu einer Übergestalt mit herausragender Bedeutung für das Spielerlebnis gemacht.

Dungeon World geht einen anderen Weg: Auch hier gibt es eine Spielleitung, aber ihre Rolle ist deutlich näher an den Spielerinnen und Spieler verortet. Sie ist keine Übergestalt mit exklusiven Rechten, sondern Teil einer gleichwertigen Runde, in der sich alle dem Ziel verpflichtet fühlen, eine fantastische und spannende Abenteuergeschichte zu erzählen. Wie üblich übernimmt die Spielleitung zwar auch hier die Darstellung der Welt und ihrer Personen und die Spielerinnen und Spieler die ihrer Charaktere, doch die dominante Gestaltungsmacht der SL und die reaktive Handlungskompetenz der SC werden in einem kreativen und narrativen Miteinander zusammengeführt (Player Empowerment). Außerdem werden Entscheidungen routiniert an die Regelmechanik ausgelagert, die als dritte Instanz diese Aufgabe mitträgt. Konkret heißt das, der Taktgeber der Erzählung sind die Handlungen der Charaktere, nicht aber ein vorbereitetes Abenteuerskript in den Händen der Spielleitung. Die Spielerinnen und Spieler bestimmen die Richtung der Erzählung und gestalten Details zu den Geschehnissen. Die Spielleitung bestimmt erst dann über die Erzählung, wenn alle Beteiligten von ihr erfahren wollen, wie es weitergeht, oder wenn sich – bspw. durch den misslungenen Spielzug eines Charakters – ihr eine Gelegenheit bietet (und sie explizit aufgefordert ist, das Leben der Charaktere zu einem Abenteuer zu machen). Ihre universelle Gestaltungsmacht ist also zu einer plottreibenden Kompetenz geworden, die der Dramatisierung und Eskalation der Abenteuergeschichte dient. Was sie in puncto Gestaltungsmacht aufgegeben hat, das füllen nun die Spielerinnen und Spieler aus, die explizit das Recht haben, die Erzählung nach ihrem Gusto weiterzuführen bis sie einen Spielzug auslösen oder die Erzähllogik die Fortsetzung durch eine oder einen anderen Beteiligten erfordert. Um ihrer Agenda gerecht zu werden, das Leben der Charaktere zu einem Abenteuer zu machen, ist die Spielleitung im Vorfeld durchaus aufgerufen, sich Gedanken über mögliche Ereignisse, Orte, Personen und Herausforderungen zu machen – Dungeon World nennt diese Ideensammlungen (Abenteuer-/Kampagnen-)Fronten – sie darf aber nicht davon ausgehen, alleinige Herrin über die Abenteuergeschichte zu sein. Spielleitung und Spielerinnen und Spieler teilen sich das Erzählen einer Abenteuergeschichte gleichberechtigt.

Fazit

Dungeon World ist ein Rollenspiel, dessen Oberfläche sehr nach einem traditionellen Fantasy-Rollenspiel aussieht, darunter aber sehr viel anders macht als klassische Systeme. Wie alle pbtA-Systeme ist es ein regelleichtes und narratives Rollenspiel, das das gemeinsame Erleben einer Abenteuergeschichte in den Mittelpunkt stellt. Spielziel ist nicht die realitätsgetreue Simulation von Handlungen mittels brettspielhafter Spielelemente voller Werte und Würfel, sondern die kreative Erzählung fantastischer Geschichten am Spieltisch. Storybuilding und Worldbuilding sind dabei Aufgabe von SL und SC gleichermaßen, so dass alle Beteiligten gleichberechtigt in den Spielprozess eingebunden sind. Dungeon World vereint somit auf höchste gelungene Weise klassische Fantasy-Motive mit modernen Spielkonzepten.

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