Dungeon World: Ein System denkt das Fantasy-Rollenspiel neu

Rollenspiele gibt es in rauen Mengen. Es gibt die großen Systeme, die jeder (zumindest wohl vom Durchblättern her) kennt und es gibt eine unüberschaubare Zahl von Klein- und Kleinstsystemen, deren Spielerzahl wohl kaum den Bekanntenkreis des Entwicklers überschreiten dürfte. Ein regelmäßiger Blick etwa auf pnpnews enthüllt eine bemerkenswerte Vielzahl von Produkten oder ganzen Systemen, die regelmäßig das Licht der Welt erblicken (und wahrscheinlich ebenfalls in großer Zahl wieder vom Markt verschwinden). Vermutlich sollte man diesen Output als positives Merkmal des Hobbys betrachten, als Beleg für die immense Kreativität und Schaffenskraft, die in unserer Freizeitbeschäftigung steckt. Auch wenn alle diese Systeme ihre Eigenarten und Besonderheiten haben, wohl jedes System eine neue Idee oder eine außergewöhnliche Regelmechanik hat, so gibt es doch so etwas wie einen Regelmainstream, einen nicht codifizierten Regelstandard, wie denn das Rollenspiel funktioniert. Üblicherweise gehören da grundlegende Dinge zu wie etwa die Dichotomie von Spielleitung und SpielerInnen, das Spiel eines durch Zahlenwerte definierten Charakters oder der beliebig komplex gestaltbare Mechanismus einer Attributs-/Fertigkeits/etc.-Probe. Auch so Dinge wie mannigfaltige Ausbau-/Detail-Regeln zu allen denk- und undenkbaren Aspekten, bisweilen endlose Listen aus Fertigkeiten/ Spezialfertigkeiten/ Zaubern/ Ausrüstung/ etc. oder natürlich auch umfangreiche Hintergrundbeschreibungen sind dazu zu zählen. Dieser Quasi-Standard wird weithin als Normalität verstanden, so ist Rollenspiel eben.

Rollenspiel einmal anders denken

Mit Faszination und Neugier blicke ich seit einiger Zeit auf Systeme, die Rollenspiel anders zu denken versuchen. Einmal aus Begeisterung für das Hobby und seine Möglichkeiten, zum anderen aber auch, weil der Quasi-Standard der klassischen Systeme einige erhebliche Defizite hat, die mich doch zunehmend stören (mehr dazu weiter unten). Bei diesem (gar nicht sonderlich strukturierten) Blick über den eigenen Tellerrand hinaus bin ich vor einiger Zeit auf Dungeon World gestoßen – und Dungeon World hat mir einen völlig anderen Blick auf das Rollenspiel verschafft, wie ich es so bei noch keinem anderen System erlebt habe. Dungeon World macht so viel anders und so viel besser als klassische Systeme, dass eine meiner beiden Gruppen mit fliegenden Fahnen von DSA zu DW übergelaufen ist. Seit mehr als zwanzig Sitzungen spielen wir jetzt an unserer DW-Kampagne und keiner will mehr in die „alte Rollenspielwelt“ zurück. Was genau Dungeon World so viel anders und so viel besser macht, das will ich versuchen, in diesem Beitrag zu erläutern. (Und ja, ich weiß auch, dass das Regelsystem nicht DW-spezifisch ist, sondern eine Regelengine namens powered by the Apocalypse benutzt, die sich eine ganze Reihe von Rollenspielen quer über diverse Genres teilt. Vermutlich gelten die Ausführungen hier für alle diese Rollenspiele, aber – abgesehen von einigen Runden The Sprawl – liegen meine Erfahrungen ganz überwiegend bei Dungeon World, so dass ich primär hiervon sprechen werde.)

Bemerkenswerterweise verpackt Dungeon World seinen andersartigen Ansatz in einer fast schon hochtraditionellen Aufmachung: Gespielt werden in einem Fantasy-Genre die ganz urtümlichen Charakterklassen wie bspw. Kämpfer, Magier, Kleriker oder Waldläufer, die Attribute entsprechen nicht nur namentlich den DnD-Attributen, sondern bewegen sich mit 1-18 auch in dessen Zahlenraum und selbst der Name des Systems verweist offensiv auf den Urschlamm des Rollenspiels, in dem als erstes Dungeons erkundet wurden. Hinter dieser Aufmachung verbirgt sich aber ein vollkommen anderer Spielmechanismus als ihn die klassischen Systeme pflegen und mit DnD oder auch irgendwelchen OSR-Systemen hat Dungeon World abgesehen von diesen Äußerlichkeiten nichts gemeinsam.

Wie spielt man Dungeon World nun aber? Die Andersartigkeit von Dungeon World liegt nicht im Hintergrund begründet. In Dungeon World spielt man klassische Fantasy, wobei das System allerdings so offen angelegt ist, dass auch exotischere Varianten des Genres problemlos abdeckbar sind. Es gibt keinen festen Hintergrund, sondern die Spielerinnen und Spieler sind aufgerufen, ihre eigene Welt zu schaffen, wofür üblicherweise in der ersten Sitzung der Rahmen gesetzt wird. Die Charakterklassen, die Monster, die Ausrüstung, die Spielzüge und vieles mehr sind aber ganz eindeutig auf klassische Fantasy gemünzt. Die Welterschaffung bewegt sich also im Rahmen der Genrekonventionen und diese werden von der Regelmechanik auch entsprechend unterstützt.

Wenn es also nicht der Hintergrund ist, der Dungeon World von den klassischen Systemen trennt, dann ist es aber ganz eindeutig die Regelmechanik. Dungeon World ist ein narratives Rollenspiel und verzichtet weitgehend auf simulationistische Ansätze (wenn man sich hier der Sprache der GNS-Theorie bedienen will). Das Anliegen von Dungeon World ist es, am Spieltisch eine gemeinsame Geschichte zu erzählen, nicht aber eine in einem Abenteuerband verschriftliche Handlung nachzuspielen und mit Würfelwürfen das Handeln von SC und NSC zu simulieren. Stelle eine fantastische Welt dar, mache das Leben der Charakter zu einem Abenteuer und – das gilt es hier besonders zu betonen – spiele, um herauszufinden, was passiert, so formuliert Dungeon World die Agenda der Spielleitung. Action, Dramatik, Spannung, Überraschung, solche Dinge will Dungeon World am Spieltisch erzeugen und hierfür nutzt es eine Regelmechanik, die sich nicht nur spürbar von klassischen Systemen unterscheidet, sondern vielmehr auf einer gänzlich anderen Ebene funktioniert. Das gilt es ganz deutlich zu unterstreichen: Dungeon World nutzt keine x-te Variante der üblichen quasi-standardisierten Regelmechanik („Würfel mal Initiative!“, „Mach mal eine Wahrnehmungsprobe!“, Widersteh mal dem Schaden!“ u.ä.), sondern Dungeon World regelt Spielmechaniken, für die klassische Systeme über gar kein Regelkonstrukt verfügen, und verzichtet im Gegenzug weitgehend auf die andernorts übliche Verregelung klassischer Spielmechaniken. Und, das sei vorweggenommen, damit fährt das System richtig gut.

Geschichten erleben statt Realität simulieren

Wie sieht das nun konkret aus? Stellen wir uns eine klassische Rollenspielsituation vor: Die SC sind vom Ziel ihrer Queste durch einige hohe Mauern und darauf patrouillierende Wachen getrennt und beschließen nun, im Schutz der Dunkelheit dieses Hindernis zu überwinden und irgendetwas oder irgendjemanden dahinter zu befreien (ganz gleich ob eine unschuldige Prinzessin aus der Burg eines machthungrigen Fürsten, ein unschuldiges Opfer aus dem Tempel eines finsteren Kultes oder ganz viele unschuldige Goldmünzen aus der Schatzkammer eines viel zu reichen Handelsherren).

In einem klassischen System werden nun Würfelwürfe auf diverse Fertigkeiten verlangt, etwa auf Klettern, Schleichen, Verstecken, Einschüchtern etc., wahrscheinlich auch irgendwann auf Nahkampf. Es wird also ein Wert herangezogen und eine Schwierigkeit bestimmt, diese Zahlen werden anschließend (mit reichhaltig skalierbarer Komplexität) situationsbedingt modifiziert, dann folgt ein Würfelwurf, der über das Gelingen der Probe entscheidet. Ein Erfolg bedeutet ein Gelingen, ein Misserfolg bedeutet ein Misslingen; die genaue Ausgestaltung des Würfelwurfs schildert die Spielleitung.

Bei Dungeon World gibt es keine Fertigkeiten, über die eine solche Situation geregelt werden könnte. Vielmehr gibt es Spielzüge, die durch bestimmte Handlungen der SCs ausgelöst werden. In vorliegendem Szenario wäre das vermutlich meistens der recht universelle Spielzug „Gefahr trotzen“, der ausgelöst wird, wenn ein SC in einer unmittelbaren Gefahr handelt. Denkbar wäre auch „Verhandeln“, wenn ein SC ein Druckmittel gegen einen NSC hat und diesen damit manipuliert, oder „Hauen und Stechen“, wenn ein SC einen Feind im Nahkampf angreift. Die Spielerin oder der Spieler würde wie immer (!) bei Dungeon World mit 2W6 würfeln und einen Attributsmodifikator addieren, vielleicht noch einen situationsbedingten weiteren Modifikator. Das Ergebnis kann (bei einer 10+) ein Erfolg, (bei einer 7-9) ein Teilerfolg oder (bei einer 6-) ein Misserfolg sein.

Was ist nun der große Unterschied? Etwa ein standardisierter 2W6-Wurf mit nur geringen Modifikatoren statt eines vielfach skalierbaren Würfelmechanismus‘ mit individuellem Wertebezug und detaillierter Modifizierbarkeit? Das klingt erst einmal wenig weltbewegend, geschweige denn vorteilhaft. Doch der Eindruck täuscht: Mit den drei Möglichkeiten von Erfolg, Teilerfolg und Misserfolg sind bei Dungeon World nämlich abstrakte spielmechanische Folgen verbunden, die sich gravierend von der Spielmechanik klassischer Systeme unterscheiden:

So bedeutet ein Erfolg nicht allein einen Erfolg des Charakters, sondern zugleich behält auch die Spielerin oder der Spieler das Rederecht, erzählt also eigenständig, wie der Charakter die Situation bewältigt. Er ist nicht darauf angewiesen, dass die Spielleitung den Erfolg erzählerisch in die Welt einfügt, sondern erzählt die Geschichte einfach selbst weiter und lässt den Charakter glänzen. Er macht mit seinem Charakter genau das, was ihn gereizt hat, diesen Charakter zu spielen. Dabei stehen ihm viele Freiheiten zur Verfügung, denn der Wurf sagt nur, dass die Aktion gelungen ist, nicht aber wie genau sie denn aussah. Vielleicht ist das am deutlichsten in der Kampfsituation zu erkennen: Dungeon World interessiert sich nicht dafür, ob es sich um einen Stich von hinten rechts mit einer Stangenwaffe gegen einen teilgepanzerten großen Gegner mit Schild handelte oder doch um einen frontalen Hieb aus vollem Lauf gegen einen Gegner mit zwei Waffen in voller Verteidigungshaltung. Hinter dem „Hauen und Stechen“-Spielzug können diese und noch dutzende weitere Situationen stecken, sie sind aber allein erzählerisch relevant, nicht jedoch regelmechanisch. Ein Erfolg macht einen regeltechnischen Schaden, was da aber gerade genau im Kampf geschehen ist, liegt in der Interpretation der Spielerin oder des Spielers. Ihre Erzählung bestimmt das Geschehen. Sie beschreiben den entscheidenden Hieb oder auch den dramatischen Schlagabtausch mit dem glücklichen Ausgang. Es wird also nicht die Kampfhandlung mit all ihren Details simuliert, sondern es wird eine Entscheidung über die weitere Richtung der Erzählung getroffen, bei einem Erfolg also im positiven Sinne für den handelnden Charakter. Und was für den Kampf gilt, gilt auch für die sonstigen Handlungen der Spielerinnen und Spielern, sei es Klettern, Verhandeln oder alles Sonstige: der Würfelwurf simuliert nicht eine Handlung, sondern entscheidet über die weitere Richtung der Erzählung.

Einen vergleichbaren Mechanismus bedient auch ein Teilerfolg. Jeder Spielzug bei Dungeon World listet meist mehrere Möglichkeiten auf, welche zusätzlichen Folgen den Erfolg begleiten. Beim „Salve abgeben“ könnte sich der Charakter bewegt haben müssen und sich dabei in Gefahr gebracht haben, beim „Zauber wirken“ könnte der Charakter unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben und beim „Verhandeln“ könnte der NSC eine Sicherheit für seine Zusage einfordern etc. Das Ergebnis des Spielzuges zielt stets darauf hin, die Erzählung nicht mit einer abgeschlossenen Handlung enden zu lassen, sondern Elemente für die weitere Erzählung einzuführen. Der Fernkampf endet also nicht mit einem pfeilgespickten Höhlentroll, sondern mit einem pfeilgespickten Höhlentroll, der dummerweise die Brüstung hinabstürzt und mit seinem gewichtigen Körper fünf Schritt tiefer die uralte hölzerne Aufzugmechanik zerschlägt. Die Zauberwirkung erschöpft sich nicht mit der Verwandlung des Magiers in einen Falken, um die Innenhöfe der alten Bergfestung auszuspähen, sondern sie führt auch zur lautstarken Begleitung des Falken durch einen hyperaktiven Schwarm magiesensibler Krähen. Jede Einschränkung des Erfolgs führt also nicht zur Verengung von Handlungsmöglichkeiten, sondern – ganz im Gegenteil – zur Schaffung weiterer Erzähloptionen.

Auch der Misserfolg schließlich ist der Fortschreibung der Erzählung verpflichtet, vielleicht noch deutlicher als die positiven Ergebnisse. Bei einem Misserfolg macht in Dungeon World nämlich die Spielleitung einen Zug, denn anders als bei einem Erfolg ist sie jetzt dran und macht – entsprechend ihrer Agenda – „das Leben der Charaktere zu einem Abenteuer“. Damit funktionieren Misserfolge nicht als Ende einer Handlung, sondern als Auftakt für weitere Ereignisse, die die Spielleitung nun anstoßen muss. Wie der Zug aussieht, den die Spielleitung zu machen hat, ist nur abstrakt aufgeführt (etwa „Bringe jemanden in Schwierigkeiten“ oder „Enthülle eine unangenehme Wahrheit“), wichtig ist aber, dass dieser Zug zu weiteren Ereignissen führt. Wo das erwähnte Kletter-Beispiel in einem klassischen System (zumindest rein regelseitig) bei einem Misserfolg in einem vorläufigen Scheitern endet, sprich: die Mauer nicht überwunden wurde, verlangt Dungeon World von der Spielleitung, diesen Misserfolg in die nächste Herausforderung für die Spielerinnen und Spieler zu verwandeln, etwa indem die Wachen das Kratzen der Steigeisen hören („Bringe jemanden in Schwierigkeiten“), ein Sturz die tönernen Heiltränke am Gürtel zerstört („Verbrauche ihre Ressourcen“), sich der erklommene Mauerteil als Todesfalle im Schussfeld einer Ballista erweist („Wende ihren Spielzug gegen sie“) o.ä. Ein Misserfolg bedeutet nicht Stillstand, sondern Eskalation. Dass dieser Automatismus die Spielleitung durchaus fordert, sei dabei nicht verschwiegen… (An anderer Stelle beschäftige ich mich genauer mit der Ausgestaltung dieser Misserfolge.)

Die Spielzüge in Dungeon World und ihr recht simpler Würfelmechanismus dienen somit einem völlig anderen Zweck als Würfelmechaniken in klassischen Systemen. In klassischen Systemen werden Würfelmechaniken primär dazu genutzt, bestimmte Handlungen realitätsnah zu simulieren, wozu sie gerne mit reichlich Details, Modifikatoren und Spezialregeln ausgestattet (oder überfrachtet?) werden, seien es körperliche Aktivitäten (z.B. Klettern), soziale Situationen (z.B. Verhandeln) und natürlich allen voran Kampfhandlungen. In Dungeon World dient der Würfelmechanismus hingegen nicht der Simulation spielweltinterner Handlungen, sondern der Generierung von Entscheidungen, die die Erzählung vorantreiben. Tatsächlich ist dieser gravierende Unterschied nicht auf den ersten Blick ersichtlich, da der Ausgangspunkt sehr ähnlich ist, nämlich ein Wurf auf einen Wert. Die Auswirkungen aber könnten unterschiedlicher nicht sein:

Auf der einen Seite betreiben die klassischen Systeme einen hohen Aufwand, um detailliert unterschiedliche Einflussfaktoren auf das Handeln von SCs einzubeziehen, legen die Konsequenzen des penibel ermittelten Ergebnisses aber dann allein in die Hände der SL. Also haben Spielerinnen, Spieler und Spielleitung vielleicht detailliert berechnet, wie sich Bewegung, Sicht und Windverhältnisse auf den Bogenschuss oder sich Ausrüstung, Oberflächenbeschaffenheit und Witterung auf die Kletterhandlung auswirken, doch die Einbindung dieses Ergebnisses auf die Geschichte wird ohne weitere Regelmechanik der SL überlassen. Die SL sagt, wie es weitergeht. Wir sehen also eine starke Verregelung der simulativen Ebene, aber keinerlei regelseitige Unterstützung der narrativen Ebene.

Auf der anderen Seite interessiert Dungeon World die konkrete Ausgestaltung einer Handlung regelseitig überhaupt nicht. Die Beschreibung dieser Handlung liegt ganz in den Händen der Spielerin oder des Spielers und wird rein erzählerisch vorgenommen. Ob beim Bogenschuss Wind weht oder die Mauer unter dem Kletterhaken bröselt ist allenfalls ein erzählerisches Detail, um der Geschichte entsprechende Dramatik zu verleihen – wozu Spielerin oder Spieler auch das unbedingte Recht haben. Der Würfelwurf bestimmt dann, in welche Richtung die Erzählung weiterläuft und welche Elemente der Erzählung neu hinzugefügt werden. Die simulative Ebene wird also praktisch überhaupt nicht verregelt, dafür aber die darüber liegende narrative Ebene. Die Regelmechanik von Dungeon World steuert die Erzählung.

Konsequenzen

Ob nun das eine oder andere besser ist, mag jeder nach seiner Meinung beurteilen. Für mich war Dungeon World aber ein echter Augenöffner: Rollenspiele müssen nicht wuchtige Weltsimulationen sein, wo regelmäßig entweder die Spielmechanik oder der Abenteuerplot dem kreativen Erleben von fantastischen Geschichten klare Grenzen setzt. Rollenspiele können tatsächlich das Abenteuer zum Miterleben und Mitgestalten sein, als das sie seit ihren Anfängen immer gepriesen worden sind. Ich habe seitdem Dinge erlebt, die mit klassischen Systemen nur schwer umsetzbar sind: Den Aufstieg einer Heldengruppe von namenlosen Herumtreibern zu den Rettern „ihrer“ Menschen in „ihrer“ Region vor „ihrer“ Bedrohung, die die Spieler allesamt selbst im Spiel geschaffen haben (ohne dass es eine Vorlage außerhalb des Spieltisches gegeben hat). Die Freiheit, beliebige Handlungsstränge zu verfolgen und doch stets mit einer guten Geschichte belohnt zu werden (weil es keinen vorbereiteten Hauptplot gibt, sondern die Spielmechanik jeden Handlungsstrang in eine eskalierende Geschichte umsetzen kann). Die Erfahrung, dass Kämpfe auch und gerade mit vielen Beteiligten mit unterschiedlichen Fähigkeiten (profan, magisch, klerikal, dämonisch, elementar) schnell und actionreich ablaufen können (was in klassischen Systemen gerne zu einem kaum handelbaren Overkill an allen möglichen Spezialregeln führt). Die Erfahrung, dass Monster nicht unbedingt Gegner sein müssen, sondern auch interessante Bewohner der Spielwelt mit Potential zum Rollenspiel sein können (weil sie neben ihren Werten auch narrative Spielzüge haben, die über die Regelmechanik direkt getriggert und dann erzählerisch ausgestaltet werden können). Und natürlich das halbwegs regelmäßige Ignorieren meiner Spielleiter-Ideen, die die Spielerinnen und Spieler gerne zu Gunsten ihrer eigene(n) Geschichte(n) links liegen ließen (was der Begeisterung für die Kampagne bestens zu Gute kam). Und all das funktioniert letztlich deshalb so gut, weil sich jede Situation mit einem 2W6-Wurf und den drei möglichen Ergebnissen abhandeln lässt, ganz gleich ob es das simple Reiten eines Pferdes ist oder das hochkomplexe Reiten eines steinernen Pegasus in einem magischen Wirbelsturm ist beim gleichzeitigen Versuch, eine Gruppe von finsteren Kultisten mit ein Pfeilhagel von der Plünderung eines Tempels abzuhalten. Der Wurf simuliert ja nicht die Handlung (und muss nicht den gesamten Ballast einer irgendwie realistischen Abbildung tragen), sondern der Wurf entscheidet über die Richtung der weiteren Erzählung.

Im Ergebnis ergeben sich daraus gravierende – ja, dramatische – Folgen für die Spielpraxis.

  1. Das Spiel springt nicht andauernd zwischen immersiven Phasen der Erzählung und brettspielartigen Phasen der Werteberechnung und Würfelwahrscheinlichkeiten hin und her. Die Erzählung ist weithin ungebrochen und wird nicht von einem mathematischen Mikromanagement aus Tabellen und Zahlenkolonnen belastet. Gerade Kämpfe sind keine komplexen Subsysteme mehr, in denen auf einmal die Erzählung von einer taktischen Simulation verdrängt wird, in der dann auch noch wenige Sekunden Spielzeit eine Menge Echtzeit zur Bewältigung brauchen. Rollenspiel ist hier Narration (wie in Buch oder Film) und nicht Simulation (wie etwa im Tabletop).
  2. Spielerinnen und Spieler erleben ihre Charaktere als aktive und handelnde Personen. Sie erzählen die Geschichte und sie machen ihre Charaktere zu den Hauptpersonen. Es sind die Charaktere, die die Erzählung tragen, nicht die Abenteuervorlage. Entsprechend agieren die Charaktere nach ihren Interessen, sie reagieren nicht lediglich auf vorbereitete Anreize. Eine Abenteuerfront – so der systemspezifische Begriff für das ganz rudimentäre Abenteuergerüst – wird sich völlig anders entwickeln, wenn ein Barbar oder ein Paladin, ein Barde oder ein Druide ihr seinen Stempel aufdrückt. Und Dungeon World gibt seinen Charakteren Raum zum Glänzen. Charaktere können hier etwas. Es gibt nicht diese Hemmnisse, wie sie üblicherweise die allfälligen Proben der klassischen Systeme darstellen: Wert niedrig, Wurf misslungen, Handlung gescheitert. Krieger können hier kämpfen, Magier die arkanen Mächte entfesseln, Waldläufer die Natur beherrschen usw. Deshalb spielt der Spieler ja genau diesen Charakter. Erst wenn die Situation dramatisch und spannend wird, dann kommen die Würfel als Zufallselement ins Spiel und sie entscheiden über filmreife Handlungen, nicht aber über alltägliches Klein-Klein. Und selbst Misserfolge treiben die Erzählung voran. Die Spielerfahrung in Dungeon World ist ein „Können“ und ein „Machen“, nicht aber ein „Nicht-Können“ oder ein „Nicht-Funktionieren“. Geht nicht, gibt es hier nicht.
  3. Die Spielleitung ist von detaillierter Vorbereitung eines Abenteuers und der universellen Gesamtverantwortung für den Spieleabend befreit und kann sich ganz auf das Miterzählen der Geschichte konzentrieren. Ihre Allmacht hat sie eingebüßt, dafür ist sie ein wichtiger Teil der Erzählung rund um die Charaktere geworden. Mach das Leben der Charaktere zu einem Abenteuer, so formuliert es ihre Agenda. Wenn ein Misserfolg eines Charakters oder die erwartete Reaktion der Spielwelt ihr die Möglichkeit gibt, dann befeuert oder verkompliziert sie die aktuelle Situation. Dabei ist sie, gemäß ihrer Prinzipien, ein Fan der Charaktere und schafft die Herausforderungen, die Charaktere brauchen, um ein Abenteuer zu erleben und letztlich einen gelungenen Spieleabend zu produzieren. Die Aktivität wechselt also permanent zwischen Spielleitung und Spielerinnen und Spielern hin und her. Alle Beteiligten am Spieltisch agieren auf Augenhöhe miteinander. Eine omnipotente Spielleitung, wie sie klassische Systeme kennen, die agiert, während die Spielerinnen und Spieler auf deren Aktivitäten reagieren, kennt Dungeon World also nicht.

Und für das Erleben dieser Spielerfahrungen bin ich Dungeon World (und der gesamten pbtA-Engine) wirklich zutiefst dankbar!

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